Das Jahrhunderthochwasser
Während Jahrhunderten verwandelten Hochwasser die Strassen von Langenthal in Bäche und liessen die Ortschaft mit den hohen Trottoirs für kurze Zeit zum „Venedig des Oberaargaus“ werden. Seit 1991 hat Langenthal dieses identitätsstiftende Ereignis verloren. Seither führt der Entlastungsstollen bei Madiswil in Zeiten einer Überschwemmungsgefahr das „Überschwemmungswasser“ der Aare zu, bevor es die Ortschaft erreicht.
Die Langenthaler „Wasserstrassen“ waren die Frucht der Langenthaler Siedlungspolitik. Erst im 17. Jahrhundert wurden markante Gebäude wie das Kaufhaus und die Tuchlaube kühn über die Langente, mitten in die überschwemmungsgefährdete innere Allmend gebaut. Seither wuchs diese langsam zum Ortszentrum heran. Diese Siedlungspolitik spiegelt auch den Machtzerfall des Klosters St. Urban. Wer über der Langete baute, konnte den an das Kloster zu zahlenden Bodenzins sparen. Allerdings hatte diese Entwicklung nun auch zur Folge, dass die Marktgasse vorübergehend immer wieder zum Flussbett wurde und deshalb um 1900 entlang der Bahnhofstrasse Hochtrottoirs erstellt werden mussten. Beim heutigen Kunsthaus befindet sich noch heute der Notablass, eine Schleuse, die das Wasser aus dem gewohnten Lauf in das Dorf hineinlenkte, durch die Bahnhofstrasse in den Hardwald, wo es in Gräben versickerte. Derartige Hochwasser traten durchschnittlich einmal pro Jahr auf.
Es gab allerdings auch Jahre, in denen das Wasser zehnmal durch die Strassen floss (1986). Da die Hochwasser meistens kaum lebensbedrohend waren, konnte sich eine Art Brauchtum entwickeln: Kinder liessen flackernde Leuchter durch die überschwemmten Gassen schaukeln, gingen auf Krebsfang, fuhren mit den Fahrrädern durchs Wasser oder überquerten auf Stelzen die Strasse. Die Hochwasser zogen immer auch zahlreiche Schaulustige an.
In den frühen Morgenstunden des 30. August 1975 richteten ungestüme Wassermassen in Langenthal und in den Dörfern entlang der Langete grosse Schäden an. Durch mehrere Gewitter im Einzugsgebiet der Langete steigerte sich die Wassermenge auf mehr als das Doppelte der bisher bekannten Hochwasser. Mit diesem „Jahrhunderthochwasser“ wuchs der Druck für eine Lösung des Problems. Es führte schliesslich zum erwähnten 1991 eingeweihten Ableitungsstollen.
Weiterführende Literatur:
Die Zähmung der Langete. Hochwasserschutz im unteren Langetental. Hochwasserschutzverband 1998
Dieser Text wurde von Langenthals ehemaligem Stadtchronisten Simon Kuert verfasst.
Bild:
Wasserfluten in der Marktgasse, 1975