Das grosse Freischarenfest
Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde Langenthal dank aussergewöhnlichen Persönlichkeiten (Philosoph Andreas Dennler, Ammann Johann David Mumenthaler, Apotheker und Großrat Friedrich Dennler, Oberst und Grossrat Friedrich Geiser) zur eigentlichen freisinningen Hochburg der Eidgenossenschaft. Langenthal führte 1822 das erste schweizerische Offiziersfest durch, organisierte 1826 die Tagung der Helvetischen Gesellschaft mit der berühmten letzten Rede Pestalozzis und beherbergte 1831 die Gründungsversammlung des eidgenössischen liberalen Schutzvereins für politischen Fortschritt. In den 40-er Jahren suchten politische Flüchtlinge Langenthal auf und es entstand eine vielfältige radikal-freisinnige Presse. Im Freischarenzug von 1845 war Langenthal Sammelplatz und 1850 empfing das Dorf im Bären die freisinnige Studentenverbindung Helvetia zum ersten Zentralfest. Das eindrücklichste Ereignis in der Kette dieser freisinnigen Treffen war 1870 das große Freischarenfest, der 25. Gedächtnistag für die bei den Freischarenzügen Gefallenen. Dieses Fest stand ganz im Zeichen des Kulturkampfes des konfessionell neutralen, zivilreligiösen Staates gegen die unter Papst Pius IX wieder erstarkte katholische Kirche. Hauptredner an dieser, von über 10'000 Menschen besuchten, und von unzähligen liberalen Organisationen der Eidgenossenschaft beschickten Versammlung war der Aargauer Landammann und Ständerat Augustin Keller. Seine Rede zerzauste den päpstlichen Syllabus von 1864, welcher in 80 Thesen den Liberalismus und die aufkommenden säkularen Nationalstaaten und ihre Wertgrundlagen als „Irrtümer“ verurteilte. Zudem kritisierte Keller die Beschlüsse des ersten vatikanischen Konzils von 1870, welches u.a. die Unfehlbarkeit des päpstlichen Urteils in dogmatischen und ethischen Fragen sanktioniert hatte. An der Langenthaler Versammlung wurde eine patriotische Petition an den Bundesrat verabschiedet, welche verlangte, dass sich die neue Bundesverfassung von Werten der Aufklärung und der Vernunft angesichts eines „freien göttlichen Himmels“ leiten lasse. Entsprechend brachten die Radikalen 1874 die veränderte Bundesverfassung mit den konfessionellen Ausnahmeartikeln durch. Sie sollte ein ganzes Jahrhundert Gültigkeit haben. Die Langenthaler Zustimmung zur neuen Verfassung war damals mit einem Stimmenverhältnis von 728 Ja zu 27 Nein eine der besten der Schweiz.
Weiterführende Literatur
Max Jufer: Das Langenthaler Freischarenfest von 1870, in Langenthaler Heimatblätter 1974
Dieser Text wurde von Langenthals ehemaligem Stadtchronisten Simon Kuert verfasst.
Bild:
Die Marktgasse um 1870, in ihrer architektonischen Geschlossenheit ein eindrucksvoller Schauplatz des Freischaren-Gedenkfestes.