Die letzte Gemeindeversammlung und die Wahl des Grossen Gemeinderates
Der Grosse Gemeinderat von Langenthal war in seiner Entstehung die Frucht des sozialen Wandels im Dorf zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zwischen 1862 und 1910 waren über ein Dutzend neue Firmen entstanden. Darunter mechanische Webereien, Maschinen-, Teppich- und Porzellanfabriken, Ziegeleien, grafische Unternehmen und Bauunternehmen. Diese starke Industrialisierung hatte Auswirkungen auf das soziale Gefüge im Dorf, das damals 6'200 Einwohnerinnen und Einwohner zählte. Eine neue, selbstbewusste Schicht von Arbeitern stand plötzlich dem freisinnig orientierten Bürgertum gegenüber, welches seit Jahrzehnten die Dorfpolitik bestimmte. Innerhalb dieses Bürgertums dominierten die Bauern und Handwerker – nach der Jahrhundertwende zunehmend aber die Industriellen. Letztere gründeten 1906 die freisinnige Ortspartei. Industrielle wie Arnold Spychiger (1869-1938), Ulrich Ammann-Dennler (1861-1944) oder Arnold Gugelmann (1852-1921) betrachteten es als selbstverständliche Pflicht, das Gemeinwesen wirtschaftsfreundlich zu gestalten. In den Augen der Bauern und Handwerker im Dorf verfolgten diese Freisinnigen aber zu stark die Interessen der Industrie. Das führte innerhalb des Bürgertums zu Konflikten, die 1919 zur Gründung einer neuen Bürgerpartei (DPL – Demokratische Partei, später BGB) führten.
In Langenthal sah das Gemeindereglement von 1898 für Gemeinderat und Kommissionswahlen das Mehrheitswahlrecht vor. Das hatte zur Folge, dass die erstarkende Arbeiterschaft in den politischen Gremien immer untervertreten war. Als bei den Wahlen von 1917 kein Sozialdemokrat in den Gemeinderat gewählt wurde, sammelten die Arbeiter Unterschriften für die Einführung des Proporzwahlrechtes. Das neue Gemeindereglement, welches im Zusammenhang mit der Beratung der Initiative geschaffen wurde, sah als neue Behörde einen Grossen Gemeinderat vor. Am 9. Dezember 1918 nahmen 709 Langenthaler an einer Gemeindeversammlung in der Kirche das neue Reglement an und schufen damit das Gemeindeparlament. Am 9. Februar 1919 wählten die Langenthaler die ersten Gemeindeparlamentarier.
85,1 % der Stimmbürger gingen an die Urne und wählten 23 Vertreter der bürgerlichen Liste, 12 Sozialdemokraten und 5 Vertreter der Grütlianer . Damit hatte Langenthal früher als andere Gemeinden ein Forum geschaffen, das die verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Strömungen vereinigte und ihnen die Gelegenheit bot, im vernünftigen Diskurs Strategien zu entwickeln, um das Gemeinwesen voranzubringen. Am 17. März 1919 trat das 40-köpfige Langenthaler Gemeindeparlament erstmals im Übungssaal des neuen Theaters zusammen.
Weiteführende Literatur
Samuel Hermann: Zur politischen Entwicklung Langenthals, Heimatblätter 2001, S. 29
Dieser Text wurde von Langenthals ehemaligem Stadtchronisten Simon Kuert verfasst.